Kultur ist ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Lebens. Menschen, die keinerlei künstlerische, musikalische oder literarische Vorlieben haben und die nie von diesen beeinflusst wurden, sind schwer vorstellbar, und wenn doch, dann nur mit einem bitteren Beigeschmack. Das bedeutet, dass jede*r Kunstschaffende die eigenen Werke auf einem Unterbau fremder Werke errichtet. Viel zu selten wird diese Gegebenheit in Literatur eingearbeitet. Dabei gibt es viele Argumente dafür.
Charakterisierung
Die Charakterisierung von Figuren kann beispielsweise vertieft werden, wenn man ihnen Kunstwerke beigibt: einen Lieblingssong, ein Lieblingsbuch oder einige Bilder, die sie in ihrer Wohnung aufgehängt haben. So könnte man einen Charakter untermauern. Eine Professorin, die klassische Musik hört, wirkt zunächst nicht viel anders als die gleiche Professorin, deren Musikgeschmack unerwähnt bleibt, es sei denn, sie ist wirklich begeistert davon. Gibt man ihr Goethe zu lesen, wirkt sie altmodischer und konservativer, als wenn sie Brecht liest. Legt man ihr Fifty Shades of Grey auf den Nachttisch, wird es interessant. Es entsteht ein gewisser Widerspruch. Ein Klischee wird gebrochen und die Leserschaft könnte sie sympathischer finden. Größere Widersprüche innerhalb der beigegebenen Kunstwerke könnten als Anzeichen für die Unentschlossenheit einer Figur genutzt werden. Hört jemand erst Mozart, dann Die Ärzte, springt zu Black Metal und danach zu Happy Hardcore, ist er offenbar nicht in der Stimmung für eine bestimmte Musikrichtung, sondern entweder für alle auf einmal oder für gar keine. Innerhalb eines passenden Kontexts verstärkt also die Musikauswahl, wie deutlich der Leserschaft das Innenleben der Figur bewusst wird, und das ohne es beispielsweise durch eine Innensicht direkt zu benennen. Auf der Meta-Ebene könnte man außerdem Parallelen suchen zwischen Werken, die rund um die Figur auftauchen, und der Figur selbst. Dies könnten Charaktereigenschaften der Schöpfer*innen der beigegebenen Werke oder ihrer Figuren sein, Wohnorte oder Verhaltensweisen. Dadurch kann die Geschichte an Tiefe gewinnen, weil eine Interpretationsebene hinzukommt.
Doch nicht nur Figuren kann man durch die Verbauung von Kunstwerken charakterisieren, sondern auch sich selbst. Zieht man Parallelen zwischen sich und literarischen Vorläufern? Möchte man sich auf diese Weise ins eigene Werk einschleichen? In dem Fall werden vermutlich Dinge gewählt, die der/dem Schreibenden gefallen. Das führt direkt zum Punkt der Förderung anderer. Kunst, die man liebt, möchte man mit der Welt teilen. Eine Verarbeitung in einer Geschichte wäre eine passende Würdigung und eine unaufdringliche Werbung. Warum sollte man nur klassische und bekannte Werke wählen? Legt den Figuren Selfpublisherbücher in die Hand! Nachteil davon wäre allerdings, dass die Figurencharakterisierung durch den geringeren Bekanntheitsgrad schlechter unterstützt würde. Eine Kombination vielleicht? Die Figur geht ihr Bücherregal ab, liest mehrere Titel (unter anderem von unbekannten Autor*innen) und entscheidet sich dann für ein bekanntes Buch, das den Charakter unterstreicht.
Wer gerne experimentell schreibt, könnte eigene Werke auftauchen lassen, um einen Ideenkreis zu schließen oder Selbstironie einzubauen. Eure Figuren müssen eure bisherigen Bücher nicht mögen. Fans oder Literaturkritiker*innen könnte man damit ein Lachen aufzwingen.
Foreshadowing
Ein weiterer Nutzen der Erwähnung fremder Kunstwerke könnte das sogenannte Foreshadowing sein. Man deutet unauffällig das Ende der Geschichte an und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem die Verbindung noch nicht hergestellt werden kann. Vielleicht läuft anfangs ein Song von Joy Division und am Ende erhängt sich eine Figur. (Anmerkung: Ian Curtis, Sänger von Joy Division, hat sich mit 23 erhängt.) Dieses Beispiel zeigt eine sehr vage Verbindung, aber man kann es nach Belieben deutlicher gestalten. Wird das Foreshadowing richtig angewendet, entsteht ein Gefühl von Schicksalhaftigkeit und im besten Fall ein Aha-Effekt im Nachhinein. Wieder gewönne die Geschichte an Tiefe.
Bildungsauftrag
Es gibt noch einen ganz anderen Grund, um Kunst zu verbauen. Über den kann man allerdings streiten. Haben Kunstschaffende einen Bildungsauftrag gegenüber dem Publikum? Sieht man es so, kann man der Leserschaft Bildung einflößen, ohne dass sie es merkt. Hier muss man gut aufpassen, dass der Plot nicht gestört wird und die Geschichte nicht zu einem langweiligen Vortrag verkommt. Daher gehe ich lieber direkt weiter.
Atmosphäre
Malerei eignet sich besonders gut, um einem Raum Atmosphäre zu geben. Die Beschreibung eines dunklen Porträts in einem alten Schloss unterstützt eine gruselige Stimmung, sofern sie gelungen ist. Sollte es für die Geschichte nicht notwendig sein, dass eine bestimmte Figur (beispielsweise der Graf, der das Schloss bewohnt, oder ein Vorfahr) dargestellt wird, stünde doch nichts im Wege, ein bestehendes Bild zu verwenden. Auch hier gelten die gleichen Argumente wie oben.
Was ist zu beachten?
Es gibt aber auch einiges zu beachten, wenn man existierende Bilder, Musik oder Bücher ins eigene Werk einbauen möchte. Man sollte aufpassen, dass man nicht zu dick aufträgt. Wissen kann nicht vorausgesetzt werden. Eine Charakterisierung sollte beispielsweise nicht zentral auf einem Gesang aus Dantes Comedia fußen und Bilder sollten auch beschrieben werden, wenn man meint, jede*r kenne es. Plustert man sich auf und gibt mit der eigenen Bildung an, verliert man ganz schnell das Interesse des Publikums. Daher: erwähnen und einbauen, aber nicht zur notwendigen Voraussetzung der Story machen!
Ganz wichtig an dieser Stelle ist der Hinweis auf die Urheberrechte. Bilder zu beschreiben und Namen zu nennen, stellt kein Problem dar. Ohne Erlaubnis Literatur oder Songtexte zu zitieren, führt aber schnell zu Schwierigkeiten. Niemand möchte von einem Weltkonzern oder Autorenkolleg*innen verklagt werden. Das Recht, Textstellen zu verwenden, kann bei Verlagen angefragt und erworben werden. Nicht überall geht das, aber einige Verlage sind zuvorkommend. Musikrechte sind allerdings ein ganz anderes Thema und sehr viel komplexer, da die Rechte für einen Song häufig bei mehreren Einzelpersonen und auch noch mehreren Firmen liegen. Insgesamt würde ich auf direkte Zitate verzichten, weil es einerseits sicherer und andererseits meist stilvoller ist.
Manche Genres verbieten die Erwähnung existierender Kunstwerke, da sie in einer anderen Realität angesiedelt sind. Ein Fantasy-Roman, für den eine komplett eigene Welt erfunden wurde, kann ein Justin Bieber Poster im Zimmer der Prinzessin nicht vertragen. In anderen Genres sollte man ebenfalls vorsichtig sein: in Kinder- oder Jugendliteratur könnten die erwähnten Elemente überfordern oder einfach langweilen und stören.
Filme wurden bisher noch gar nicht erwähnt, aber diese aufzunehmen funktioniert natürlich nach den gleichen Prinzipien wie bei allen anderen Kunstwerken. Auch das Thema der versteckten Hommage sollte wenigstens angeschnitten werden. Umberto Eco nannte den blinden Bibliothekar in Il nome della rosa Jorge als Hommage an den Schriftsteller Jorge Luis Borges, der am Ende seines Lebens erblindete und dennoch die argentinische Nationalbibliothek leitete. Auch beschäftigte sich Borges in seinem Werk viel mit Labyrinthen, was zum labyrinthischen Aufbau der Klosterbibliothek in Ecos Buch passt. Die Bezüge und Einarbeitungen gehen noch sehr viel weiter, aber als Beispiel sollte das reichen. Man muss Elemente und Ebenen geschickt verweben können, um Derartiges zu schaffen. Einer durchschnittlichen Leserschaft, die sich für die Unterhaltung beim Lesen und nicht für tiefergehende Interpretation interessiert, sind solche Details kein Gewinn (aber auch kein Verlust). Sie zeigen jedoch die Tiefe der Geschichte, die enorme Arbeit, die in die Entstehung gesteckt wurde, und was man alles finden kann, wenn man sich die Zeit nimmt, um über Kunst nachzudenken.
Welche Kunstform und welche Kunstwerke letztendlich am besten in eine Geschichte passen, muss jede*r Autor*in selbst entscheiden. Bilder eignen sich gut, da sie relativ leicht beschrieben werden können, während dies bei Musik mehr Geschick erfordert. Vermutlich kann man die Lesenden am besten abholen, wo sie sich bereits befinden: in der Literatur. Wenn man eines über Leser*innen weiß, dann ist es, dass sie lesen. Bezüge zu anderen Werken der Literatur erscheinen als die offensichtlichste Wahl, aber die Künste sind vielfältig und die Auswahl ist endlos.

Über den Autor: Matthias Thurau ist Autor („Sorck: Ein Reiseroman“, „Alte Milch: Gedichte“), Blogger (papierkrieg.blog) und Mitglied der Autorengruppe Nikas Erben.