Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein tüchtiges Schreiberlein auch ein begeisterter Bücherwurm sein muss. Das sagen schließlich alle, die als Schriftsteller*innen Erfolg haben – in einer Einmütigkeit, dass man schon gar nicht mehr weiß, wer diesen Vater aller Schreibtipps eigentlich erfunden hat. Vielleicht musste ihn auch niemand erfinden, und er ist eben das: eine allgemein anerkannte Wahrheit.
Selbst J.K. Rowling, die sich bei Schreibtipps sehr vorsichtig bis skeptisch gibt, lässt sich zu einem ziemlich plakativen Satz hinreißen: „You can’t be a good writer without being a devoted reader.“
Und ich will auch gar nicht bestreiten, dass Lesen für ziemlich viele Dinge, die ein Schreiberlein haben oder irgendwann entwickeln sollte, ziemlich nützlich ist: Von grundlegenden Kenntnissen in Satzbau und Grammatik bis zu dem sich langsam aufbauenden Gespür für den Effekt einzelner Wörter und den Fluss der Sätze, für Eleganz, Aufrichtigkeit in der Darstellung und den Schock am rechten Platz. Um das zu lernen, ist es eigentlich ziemlich egal, was man liest, solange man aufmerksam und mit allen Sinnen liest.
Aber wie sieht es mit dem Faktor Genre aus? Lernt man beim Lesen auch, wie man ein Genre schreibt? Muss man nicht sogar im eigenen Genre belesen sein?
Für viele stellt sich die Frage gar nicht, und auch für mich hat sie sich lange nicht gestellt.
Einmal, weil ich noch gar nicht mal so alt bin, und als Jugendliche sehr unbedarft gelesen habe. Ich wusste zwar irgendwie, dass die meisten Sachen, die mich interessieren, in dem Regal in der Buchhandlung stehen, das den ominösen Titel „Fantasy“ trägt. Aber die ganzen feinen Unterscheidungen in High, Low, Contemporary, Urban und was-weiß-ich-nicht-für eine Fantasy und Romantasy – für die bin ich erst sensibilisiert worden, als Lesen mehr als nur eine Selbstverständlichkeit wurde, als ich entdeckt habe, dass es da eine eifrig diskutierende Community gibt, die natürlich Kategorien braucht, um über die Dinge überhaupt erst diskutieren zu können. Im Nachhinein kann ich also sagen: Was ich so lese, ist vor allem High Fantasy und Urban Fantasy (und wildes anderes Zeug, nach dem ich nicht suche, worauf ich aber mit der Nase hinstoße).
Aber schon bevor ich ein Verständnis von Genre hatte, hat Genre natürlich immer mein Schreiben geprägt, auch wenn es mir nicht in dem Ausmaß bewusst war, wie heute. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas geschrieben zu haben, in dem nicht das Übernatürliche irgendeine Rolle gespielt hat. Drachen, Elfen und Zwerge bevölkern schon immer meine Welten mit phantastischen, immer auf –a endenden Städtenamen, wie sie die Bücher bevölkern, die ich gelesen habe. Natürlich sind meine Geschichten gewissen grundlegenden Plots, wie der Queste und der Heldenreise oder der Heldenwanderung, so natürlich gefolgt, als gäbe es keine anderen Arten, Geschichten zu erzählen. (Und eigentlich überhaupt keine anderen Geschichten. Und wenn, dann sind die nichts für mich.) Fantasy, also Urban und High Fantasy, ist meine schriftstellerische Komfortzone, das, was ich liebe und wo ich das Gefühl habe: „Hier kenne ich mich aus.“
Aber Moment. Was bedeutet das eigentlich: „Ich kenne mich aus“?
Ich glaube, es bedeutet Positives und Negatives.
Was das bedeutet, merke ich gerade an zwei neuen Projekten, die die Frechheit besessen haben, meine klassischen Vorlieben zu sprengen. Das eine, das gerade auf der Tagesordnung steht, ist eine eher für Jugendliche gedachte Geschichte, die während der georgianischen Zeit in England spielt, und, surprise, surprise, magische Elemente enthält. Das Gehirnareal für Genre-Einteilung, das ich jetzt nur noch schwer stoppen kann, ordnet ein: Historische Fantasy. Im Schreibnacht-Forum um Rat fragend, hat sich ergeben: Steampunk klappt als Label wohl auch ganz gut.
Problem: Ich habe genau 0 Werke historische Fantasy gelesen. Und genau ein Steampunk-Werk (His Dark Materials).
Ich kenne mich also nicht aus. Keine Ahnung, was so typischerweise die Ästhetik von historischer Fantasy und von Steampunk aussieht. Keine Ahnung, welche Arten von Magie da vorstellbar sind. Keine Ahnung, ob und wenn ja: was für magische Wesen solche historischen Dampf- und Zahnradwelten bevölkern.
Ist doch gut, oder? Ich bin quasi unbelastet von der Klischee-Kiste, die jedes Genre mit sich schleppt. Einerseits ja. Andererseits ist mein drängendstes Problem tatsächlich genau das: Ich habe keine Ahnung, ob es nicht schon Werke gibt, die viel zu ähnlich zu meinem sind. (Erste Ideen zu einem Thema sind ja oft ziemlich naheliegende und banale Ideen.) Vielleicht fühlt sich mein Projekt nur für mich so frisch und unverbraucht an, weil ich quasi das erste historische Fantasy-Werk, das ich lese, selbst schreibe. Meine Landkarte auf diesem Gebiet ist leer, ich kann also nur überrascht werden – wo andere vielleicht schon längst gelangweilt gähnen.
Das ist aber eben auch das Aufregende, dass ich keine Standardlösungen kenne (außer die, die es in „meinen“ Genres gibt). Das heißt zunächst einfach nur, ich kenne keine Standardlösungen, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht verwende ich dann keine. Vielleicht verwende ich aber auch die allerabgedroschensten und merke es nicht einmal, einfach, weil sie naheliegend sind.
Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde man eine von Berty Bott’s Bohnen jeglicher Geschmacksrichtung essen. Bei meinem aktuellen Projekt kann jetzt, gefühlt, wirklich alles herauskommen: entweder abgedroschener Kitsch oder etwas ganz Neues, oder, wahrscheinlicher, eine wilde Mischung von beidem. (Wovor ich ehrlich gesagt am meisten Angst habe, ist, dass es eine billige Übertragung aus „meinen“ Genres in ein neues Setting wird.)
In jedem Fall lässt einen das Schreiben in einem Genre, das man selbst nicht liest, ein paar Filter im Gehirn – einfach weglassen. Das finde ich gerade enorm aufregend. Und deshalb lasse ich mir gerade einfach mal den Spaß, Bohnen zu futtern, von deren Geschmack ich keine Ahnung habe. Mal sehen, was dabei herauskommt. Vielleicht einfach die gute, alte Vanille – vielleicht aber zur Abwechslung auch mal Seegurke.
Dass es in jedem Fall trotzdem eine feine, eigene Note von mir selbst tragen wird, darauf vertraue ich einfach.
Und wie steht’s bei euch? Würdet ihr es wagen, ein Genre zu schreiben, das ihr nicht lest? Habt ihr es schon einmal gewagt? Welchen Geschmack hatte eure Bohne?

Über die Autorin: Lea Sager wurde 1993 in Regensburg geboren und arbeitet dort als Kirchenhistorikerin. Die teils skurrilen Persönlichkeiten und Philosophien der Spätantike sind dabei immer wieder Zündfunken für Figuren und Geschichten, in denen man dem Übernatürlichen begegnet. Neben ersten eigenen Schreibversuchen ist hier auch ein Blog über phantastische Literatur im Aufbau.